Auswahl nach Energie – Galerie Paul Scherzer 2022

Texte zur Ausstellung von Miriam Albert

Franz Rentsch

Form und Gestalt haben die Grenze zur Auflösung überschritten, sie sind in den Aggregatzustand des Flüssigen übergesprungen. Manchmal glaubt das Auge, kurz etwas fassen zu können, ein Farbfeld scheint sich verschwommen zu etwas Bekanntem zu ballen, dann aber rutscht es gleich wieder ab, lässt sich gleiten ins energetisch flirrende Feld des Bildes. Eine Betrachtung, sich gehenlassen, betören.

Wo ursprünglich Erzählstoffe nordischer Mythologie als Ausgangspunkt für üppige, bedeutungsschwere Bilder dienten, haben die Bilder mittlerweile an Leichtigkeit gewonnen, konzentrieren sich oft auf einzelne Farbtöne. Luftige Zwischenräume tun sich auf, manche Bilder bestehen sogar zum größten Teil aus Zwischenräumen. Weiterhin sind sie aber sehr dicht. Es gelingt ihnen immer wieder, die den Mythen innewohnenden Urkräfte zu haschen und zu kanalisieren. 

Verdeckungen, Abklebungen und die anschließende Enthüllung sind Grundlagen eines experimentellen Spiels des Drüber-und-Drunters. Folien und Klebebandstücke bedecken Teile der grundierten Leinwand, flüssige Farbe läuft beim Malen darunter, sammelt sich, trocknet manchmal pfützenhaft. Vermeintlichen Störfaktoren wird als Stilmittel der Weg bereitet, sie werden in den Arbeitsprozess willkommen und dialogisch integriert. Fremden Gesetzmäßigkeiten folgend entstehen so beim Malen unvorhersehbare Effekte, eigenwillige Formen.

Freie Malerei ist ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Sich darauf einzulassen – genauso wie auf die Betrachtung der Bilder – verlangt große Offenheit, Neugier und auch Wagemut. Es ist, als würde man zu einer Exkursion in ein unbekanntes Gelände aufbrechen und die Landkarte ist vorerst nur ein einziger weißer Fleck, nämlich die Leinwand selbst. So wie das Malen dem Durchschreiten einer Landschaft ähnelt, kann das spätere Bild als protokollartiger Exkursionsbericht gelesen werden, oder als kartografische Notiz. So ist es wohl kein Zufall, dass die Bilder auf dem Boden gemalt werden, ebenerdig.

Und immer wieder tauchen Irritationsmomente auf. Beinahe zu übersehen, so unvermutet brechen sie mit der Bildordnung, in die der Blick sich schon einzufügen geglaubt hatte. Plötzlich blitzt da etwas anderes unter der Bildoberfläche hervor, flüchtiger Einblick in eine Unterwelt. Gerade diese Stellen machen das Bild aber erst richtig zum Bild. Obwohl, oder gerade weil sie irritieren, bilden sie auch Schwerpunkte und Ruhepole. Sie runden das Bild ab in seiner Leichtigkeit und Rätselhaftigkeit, machen es tief und buchstäblich vielschichtig, nicht einfach zu greifen.

Sophia Schama

Die Jahre des Malens haben die Gestalthüllen der Dinge abblättern lassen, die Bilder haben sich den puren Energien zugewandt. Ausgehend von den früher häufig dichten, dunklen Malereien mit Wildtierprotagonisten oder Graslandschaften hat sich eine immer reduziertere Bildsprache entwickelt, der es gelingt Balance zu halten zwischen Klarheit und Spannung, zwischen Dichte und Leichtigkeit. Und es ist die Linie, die die unzähligen Möglichkeitsräume der Malerei erkundet, oft auf verblüffende Weise.

Linie kann dabei sehr vieles sein: farbige Pinselstrichlinien, keck im Bild sitzend über einem dezenten Schatten, oder planvoll gezogen wie für einen U-Bahn-Netzplan. Gesprühte, tänzelnd- zuckende Arabesken, bisweilen geradezu anmutig. Starke Energien eines rabiaten Kritzelns. Dann wiederum Linien, die sich durch eine bestimmte Behandlung des Materials ergeben: knicken, falten und knittern, Schattenwürfe. Reiben und ritzen, schneiden und sägen. Durchfrottierte Gitterstrukturen, Streben. Konturlinien durch präzis abgeklebte Bildflächen. Und nicht zuletzt Spuren von Farb- und Werkzeugproben auf Malunterlagen, die, auf einen Rahmen gezogen, sich als großformatige Bilder behaupten können. Wie eine Musik, die nicht mehr zwischen Klang und Geräusch zu unterscheiden braucht, kann jeder Malspur das Potential zum Bild entlockt werden.                                                      

Auf den ersten Blick scheint das simpel, jedoch steckt dahinter das Können, das sich aus einer jahrzehntelangen Praxis speist.

Als unmittelbare Spur einer Bewegung spricht die Linie von der Erfahrung der malenden Hand. Einzelne Linien scheinen mit Leichtigkeit aufs Bild geworfen, sitzen perfekt. Andere wirken geplant, konstruiert. An manchen Stelle schimmern frühere Linien hindurch, verworfen und übermalt erzählen sie von der suchenden Annäherung ans Bild.

Es ist eine Malerei, die sich durch die Reduzierung ihrer Mittel strenge Grenzen setzt. Ein Untersuchungsrahmen wird gesteckt, um konsequent forschend die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen. Ist dieser dann aber ausgereizt, ist er plötzlich zu eng und wird großzügig gesprengt. So wie der Rahmen gewisse Energien zu bündeln vermag, so führt seine Öffnung zu einem freudvollen Erguss dieser Energien – das Bild wirft sich mit seiner ganzen lustvollen Sprengkraft in den Raum hinein, wabert, streunert, jagt wild über die Wände.

© Franz Rentsch 2024